IXI<p>Im November 1938 wurde die von den Nazis sorgfältig gehegte Illusion einer »kulturellen Autonomie« der Juden brutal zerstört. <br>Die leitenden Mitarbeiter des jüdischen Kulturbundes hatten bis zuletzt daran geglaubt und noch wenige Monate vor dem Pogrom Anteilscheine zum Erwerb des bislang gepachteten Theaters in Berlin ausgegeben. </p><p>Im November 1938 gehörte dieses Gebäude zu den wenigen jüdischen Einrichtungen, die nicht demoliert oder in Brand gesteckt wurden. <br>Der Hilfsregisseur Kurt Baumann, der im Jahr 1933 einen ersten Entwurf für die Gründung und die Organisation des Jüdischen Kulturbundes angefertigt hatte, berichtet in seinen unveröffentlichten Erinnerungen über den Tag nach dem Pogrom:</p><p>»Am nächsten Morgen fuhr ich mit der Straßenbahn wie üblich in mein Büro und sah zum ersten Mal einige der Dinge, die in dieser Nacht geschehen waren. Ich war beinahe überzeugt, dass es unserem Theaterkomplex nicht anders ergangen sei...</p><p>Vor der Tür stand wie immer einer der mir bekannten Schutzpolizisten und sagte: ›Guten Morgen‹. Ich konnte beim besten Willen keine Beschädigungen am Gebäude wahrnehmen. <br>Ich ging in die Direktionsräume im Vorderhaus, und da war<br>alles Büropersonal, das um 9 Uhr da zu sein hatte, anwesend... <br>Zwei Dinge wurden uns langsam klar: dass die Nichtzerstörung unseres Hauses und die Tatsache, dass scheinbar niemand, mit einer Ausnahme, verhaftet war, darauf schließen ließ, dass dieser ›Ausbruch der kochenden Volksseele‹ unter straffer Regie der Behörden vor sich gegangen war und dass wir offenbar aufgespart wurden zu Zwecken, von denen wir noch nichts Genaues wussten.</p><p>Einer unserer Bühnenarbeiter erzählte uns, dass schon vor Mitternacht ein schwer bewaffnetes Kommando SS vor unserem Eingang aufgezogen sei und dass kurz nach Mitternacht zwei Lastwagen voll SA-Leute gekommen waren, um unser Haus zu zerstören und in Brand zu setzen. <br>Die SA-Leute waren aus Magdeburg gekommen.<br>Den Magdeburgern wurde kurz und bündig erklärt, dass hier nichts zu zerstören oder anzuzünden sei, dass das Haus unter dem Schutz des Propagandaministeriums stehe und die SS Befehl habe, wenn nötig von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. <br>Daraufhin seien die Lastwagen mit der SA schleunigst abgefahren.«</p><p>Jeder Schritt, den die Nazis von der Entrechtung zur Vernichtung der Juden unternahmen, drängte den Mitgliedern des Kulturbundes die Frage auf, ob ihre Arbeit noch mehr sei als ein Alibi, welches das Regime vor allem gegenüber dem Ausland propagandistisch ausnutzen konnte, denn mehrfach präsentierte die NS-Führung ausländischen Besuchern Berlins das Kulturbundtheater als Musterbeispiel ihrer "Judenpolitik".</p><p>Das Theater des Jüdischen Kulturbundes in Berlin war die einzige jüdische Institution in Nazideutschland, die nach der »Kristallnacht« den Betrieb wieder aufnehmen durfte. <br>Mehr noch: auf Befehl Hinkels musste gespielt werden – und zwar ein Studentenschwank: »Die Premiere von<br>›Regen und Wind‹ hat ihresgleichen nicht – selbst in den bewegten Annalen der Theatergeschichte«, schrieb Herbert Freeden über die Tage nach dem Pogrom. </p><p>»Die Portale des Theaters in der Kommandantenstraße<br>waren weit geöffnet. Das Halbrund des Parketts strahlte im alten Glanz.<br>Die Kronen an der Decke leuchteten auf, die Platzanweiserinnen in schmucken Uniformen standen im Foyer und auf den roten Teppichen, die zu den Logen führten. <br>Zu Hause warteten Frauen auf Nachricht von ihren verschleppten Männern und Söhnen; zu Hause saßen Menschen auf den Trümmern ihrer Existenz – und hier im Theater gingen auf Befehl die Lichter an.«</p><p>Die Mitarbeiter des Kulturbundes hatten geglaubt, das sei das Ende der Organisation und ihrer Arbeit.<br>Doch für den Kulturbund begann erst, so schreibt der damalige Regieassistent Herbert Freeden, die "letzte, gespenstische Epoche": <br>Vorhang auf - die Juden haben Theater zu spielen!"</p><p>Das ganze Unternehmen schrumpfte nach 1938 auf eine kleine und groteske Scheinwelt zusammen, in der schließlich bis ins Detail vorgebildet war, was später in den Lagern vollstreckt wurde.</p><p>Am 11. September 1941, wenige Tage vor der Einführung des<br>Judensterns und wenige Monate vor dem Beginn der Deportationen, wurde der Kulturbund auf Anordnung der Gestapo aufgelöst. <br>Jetzt sollten die Juden nicht mehr im Theater zusammentreffen, sondern im Sammellager. <br>Die Karriere eines Begriffs begann: Der Kulturbund wurde<br>»abgewickelt«, d.h. die beweglichen Werte wie Fundus, technische Geräte und die Restauflagen jüdischer Bücher wurden konfisziert. Die verbliebenen Schauspieler, Musiker und Angestellten, die nicht mehr auswandern oder fliehen konnten, wurden zur Zwangsarbeit herangezogen oder zu bürokratischen Handlangerdiensten bei der »Reichsvereinigung der Juden« verpflichtet; dort mussten sie sich dann schließlich selbst auf die Deportationsliste setzen.</p><p>Einige Monate nach dem Ende des Kulturbundes schrieb dessen über Paris nach Amerika entkommener Mitbegründer Julius Bab im Aufbau:<br>»Und sicherlich gut ist es, dass das teuflische Spiel der Nazis ein Ende hat, mit dem sie die Welt darauf hinwiesen, dass die Juden in Deutschland sich sogar noch eine Theater- und Kunstorganisation leisten können! <br>Denn nur zu diesem Zweck wurde dieser ›Kulturbund deutscher Juden‹ von den Nazibehörden nicht nur erhalten, sondern anbefohlen ... <br>Es ist gut, dass diese Lüge ein Ende hat.«</p><p>– Auszüge aus Eike Geisels “Premiere und Pogrom”, 1992 und Susanne Ahners – Erinnerungszeichen für das Theater des Jüdischen Kulturbundes, 1990</p><p><a href="https://infosec.exchange/tags/Novemberpogrom" class="mention hashtag" rel="nofollow noopener noreferrer" target="_blank">#<span>Novemberpogrom</span></a> <a href="https://infosec.exchange/tags/Antisemitismus" class="mention hashtag" rel="nofollow noopener noreferrer" target="_blank">#<span>Antisemitismus</span></a> <a href="https://infosec.exchange/tags/Kulturbund" class="mention hashtag" rel="nofollow noopener noreferrer" target="_blank">#<span>Kulturbund</span></a> <a href="https://infosec.exchange/tags/Erinnerungskultur" class="mention hashtag" rel="nofollow noopener noreferrer" target="_blank">#<span>Erinnerungskultur</span></a></p>